Was sind »psychosoziale Faktoren«?

»Der Name ist Programm«…

Wie also schon die Bezeichnung »psychosozial« vermuten lässt, handelt es sich hierbei um Einflüsse, die aus dem sozialen Umfeld heraus (vor allem aus der Kernfamilie) auf die Entwicklung und Ausprägung der betroffenen Psyche einwirken können.

Die wichtigsten psychosozialen Faktoren, die mit einer Entstehung von ADHS in Verbindung gebracht werden, sind ungünstige Familienverhältnisse bzw. Umgebungsbedingungen. Alle Umgebungsbedingungen, die unüberschaubar, unstrukturiert, chaotisch und/oder unzuverlässig sind, können bei entsprechend (vulnerablen) Kindern auslösend bzw. verstärkend bezogen auf ADHS wirken.

Zum besseren Verständnis sollen einige wenige hier angeführt werden:

Überforderung

Es lässt sich wahrnehmen, dass Kinder mit ADHS-Syndrom in bestimmten Situationen leider extrem rasch überfordert sind! Besonders trifft dies auf Situationen zu, in denen längere Aufmerksamkeitsspannen gefordert sind und die nicht aus eigenem Antrieb bzw. mit eigener Begeisterung gesucht werden. Auf dieses nur allzu auffällige Einzel-Symptom, die verkürzte Aufmerksamkeitsspanne, wirkt wohl kaum ein psychosozialer Einfluss nachhaltiger auf das spätere Verhalten als die »Stör-Falle«.

Termine, Termine

Vor nicht allzu langer Zeit lebten Kinder einfach so in den Tag hinein und ließen sich allerlei Unfug ganz spontan einfallen! Zuweilen verbrachte man ganze Tage im selben Gebäudekomplex, Kinder außerhalb der Städte vielleicht Tage und Wochen in ihren Baumhäusern. Und niemals wurde es langweilig. Heute hingegen haben die Kids schon in der Kindergartenzeit einen gefüllten fixen Terminkalender! Kaum ein Kind oder Teenager hat noch einen wirklich freien Wochentag oder längere Zeitabschnitte zum einfach nichts Tun! (»time for leisure«, wie man im Englischen so schön sagt)

Eskalation

Wenn man die Kontrolle über sich selbst verliert, wirkt sich das nachteilig auf hypersensible ADHS-betroffene Kinder aus. Das Schlimmste dabei aber ist, dass in jeder Eskalations- Situation ein Belohungsfaktor steckt, den sich ein intuitives Kind, wie es ADHS-betroffene nun mal sind, nachhaltig und sofort einprägt.

Wenn du im Recht bist, kannst du dir leisten, die Ruhe zu bewahren; wenn du im Unrecht bist, kannst du dir nicht leisten, sie zu verlieren.
Mahatma Gandhi

Strukturlosigkeit

Ein überaus maßgeblicher psychosozialer Faktor für die Entwicklung eines ADHS ist das Fehlen von klaren Strukturen in der Beziehungs- und Erziehungsarbeit. Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, dass für jedes Kind in fast allen Entwicklungsstufen klar nachvollziehbare Strukturen und Rituale unabdingbar sind. Doch auf ADHS-betroffene Kinder trifft dies in ganz besonderem Maße und in hohem Bedeutungsgrad zu.

Viele der von uns befragten Fachleute, sowohl aus der medizinischen wie auch der verhaltenspädagogischen Praxis, konnten in hoher Übereinstimmung wiedergeben, wie stark der psychosoziale Faktor Strukturlosigkeit auf den Ausprägungsgrad von ADHS, aber auch auf das Verhaltensbild von Kindern Einfluss nimmt, bei denen nur einzelne Symptome vorliegen.

Ausgrenzung

Bei einer überwältigenden Mehrheit von ADHS-betroffenen Kindern, Jugendlichen aber auch Erwachsenen lässt sich eine gewisse Neigung zur selbst motivierten Ausgrenzung in Bezug auf die jeweilige Peer-Gruppe (nahe stehende Gruppe der Gleichaltrigen) feststellen.

Dieses spezifische Verhalten bzw. diese besondere Selbstwahrnehmung von ADHS-Betroffenen ist unmittelbar mit dem Grad des Selbstwertgefühls verbunden (siehe hier).

Grundsätzlich kann man also davon ausgehen, dass auch ADHS-Betroffenen, die sich als »ganz anders als alle anderen« wahrnehmen, durch Stärkung ihres Selbstbewusstseins geholfen werden kann, sich weniger stark bis gar nicht mehr aus ihrer Peer-Gruppe auszugrenzen.

Aufwertung / Druck

Dass Kinder, die augenscheinlich nicht genauso »gut« funktionieren wie ihr direkt vergleichbares Umfeld, einen zumeist ungleich höheren Leistungsdruck erfahren wie ihre Alterskameraden, sollte jedem klar sein. Anders gesagt: Eltern, Lehrer und alle anderen Bezugspersonen versuchen zumeist durch erhöhten Druck das Leistungsniveau des betroffenen Kindes anzuheben. Genau dieses Verhalten lässt sich im Kontext der psycho-edukativen Beratung in überwältigender Mehrzahl beobachten.

Dass dabei das Spektrum von der schlichten Ermahnung oder Standpauke bis hin zu massiven Einschränkungen oder ganz allgemein schmerzlichen Bestrafungen bei nicht erbrachten Leistungen oder »ausreichend« integrativem Verhalten zur Anwendung kommt, ist ebenfalls, so bleibt zu hoffen, für jeden Interessierten gut vorstellbar.

Dies bewirkt jedoch in der Wahrnehmung des Kindes eine massive Aufwertung der ohnehin mit Sicherheit bereits selbst wahrgenommenen Schwächen und Unzulänglichkeiten.

Ein kleiner Teufelskreis entsteht: Durch andauernd ausgeübten Druck erleidet das Selbstwertgefühl des Kindes oder des Jugendlichen jedes Mal einen kleinen, aber nachhaltigen Rücksetzer.

Um ein höheres Verständnis für die Folgen dieses »Teufelskreises« zu erreichen, soll ein besonderer menschlicher Wesenszug hier in zwei Sätzen in Erinnerung gebracht werden: Parallel zur Verringerung unseres Selbstwertgefühls lässt für gewöhnlich auch unser Leistungspotenzial immer mehr nach. Mit anderen Worten: Jemand der an sich selbst nicht oder zu wenig glaubt, kann auch nach außen hin kaum glaubhaft überzeugen.

An dieser Stelle bleibt zu hoffen, dass dieser wichtige Absatz einmal mehr nachhaltige Überzeugungsarbeit zu leisten vermag: Gerade ADHS-betroffene Kinder und Jugendliche, deren Selbstwert schon aus der Natur des Defizits heraus ohnehin ständig unter erheblicher Mehrbelastung steht, reagieren überaus sensibel auf von außen erzeugten Leistungsdruck und auf verbale Abwertungen durch ihre geliebten Bezugsperson. Für sie sollte der folgende Merksatz ganz besonders zum Tragen kommen:

Wir sollten nicht versuchen, das Fehlverhalten bei Kindern auszutreiben, sondern das positive Verhalten zu fördern.
Celestin Freinet

Andere Faktoren für den Verlauf von ADHS

Persönlichkeitsbefragungen von ADHS-Patienten an diversen „Official Medical Centers" der großen amerikanischen Universitäten ergaben, dass die Entwicklung des Krankheitsbildes bei den Befragten fast ausnahmslos davon abhing…

  • in welchem Alter die Erkrankung diagnostiziert wurde
  • wie das Umfeld im familiären bzw. privaten Bereich, in der Schule und am Ausbildungsplatz bis zum Zeitpunkt der Diagnose reagierte
  • wie mit der Diagnose in der Kernfamilie umgegangen wurde
  • wie stark das Gefühl ausgeprägt war, »erkrankt« oder »krank« bzw. eben schlicht »untragbar anders« zu sein.

Diese Bedingungen werden für den Verlauf der Erkrankung bis zum Zeitpunkt der Aufnahme medizinischer Maßnahmen in der ADHS-Forschung heute als sehr wesentlich eingeschätzt.

Diese und andere verstärkenden Faktoren wirken dann eben insbesondere auf neuronale Regelkreise, die für die Regulation bzw. das Zusammenwirken von Motivation, Kognition, Emotion und dem Bewegungsverhalten verantwortlich sind (siehe hier).