Was ist die »Stör-Falle«?

Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, dass die ADHS-spezifische Symptomatik sehr stark von der Unfähigkeit dominiert wird, sich auf eine bestimmte Sache länger zu konzentrieren. Eine einmal begonnene Handlung längerfristig beizubehalten, fällt ADHS-Betroffenen häufig sehr schwer.

Möglicherweise ist genau dieses so typische, für jedermann nur allzu deutlich sichtbare Verhalten des »mittendrin Abbrechens«, das vielleicht sogar am meisten hervorstechende Merkmal von ADHS.

Lebenseinfluss ?

Lernt man beispielsweise in der Beratungspraxis hyperaktive Kinder kennen, stellt man sich oft unwillkürlich die Frage, ob nicht die Bezugspersonen selbst diese so markante Verkürzung der Aufmerksamkeitsspanne und die damit verbundene Input-Sucht (Physiologischer Aktivierungsmangel) ganz einfach durch wiederholte Verhaltensweisen bei ihren Kindern begünstigt haben könnten.

Unser Experte, Gerhard Spitzer, meint dazu: »Ich glaube fest daran, dass es sich in jedem einzelnen Fall von Verdacht auf ADHS lohnt, die psychosoziale Komponente der »Stör-Falle« aus dem Blickwinkel des erwachsenen Verhaltens besonders gründlich zu hinterfragen. Auch wenn die inzwischen weit verbreiteten wissenschaftlichen Standpunkte hauptsächlich von genetischer Prädisposition ausgehen. Vielleicht kann dann sogar ein ADHS ausgeschlossen werden und mit weniger aggressiven Mitteln etwas für eine erhöhte Aufmerksamkeit getan werden.«

Einladung zu einem Bilderlebnis

Da »bildhaftes Erleben« sowohl im therapeutischen Kontext wie auch in der Psychoanalyse erfolgreich Anwendung findet, möchte KONZETRUM Sie an dieser Stelle dazu einladen, sich vertrauensvoll auf jenes bildhafte Erlebnis einzulassen, das die »Stör-Falle« in Bezug auf ADHS vielleicht am Besten zu erklären vermag:

Blick in ein Universum

Stellen Sie sich jetzt bitte eine ziemlich große, durchsichtige und flexible Blase vor. Etwa so groß, dass ein Kind (Ihr Kind?) darin Platz findet.

Mitten in dieser Blase schwimmt nun vor Ihrem geistigen Auge ein munteres Kind beliebigen Alters gemütlich, vielleicht sogar fröhlich lachend herum. Alles in diesem großen Gebilde umgibt und durchdringt augenscheinlich das Kind. Und es scheint sich sichtlich wohl in dem offenbar warmen, glasklaren Medium zu fühlen.

Fertig!

Sie haben nun das Bild, das Sie gleich brauchen werden, bereits kreiert. Mit diesem Bild vor Augen können wir vielleicht etwas ganz Entscheidendes aus der kindlichen Lebenswelt viel besser verstehen. Denn wir Erwachsene haben diese Blase, die wir hier das »Universum der Kinder« nennen wollen, schon längst verlassen. Die meisten von uns wenigstens.

Suche nach einem Universum

Lassen Sie uns also noch kurz innehalten und uns auf die Suche begeben: Welcher Lebensinhalt kann hier wohl gemeint sein, der Kinder tatsächlich vollständig umgibt und sie völlig durchdringt? In welcher Art Blase schwimmen sie gemütlich und glücklich während ihrer gesamten Kindheit bis weit hinein in die Pubertät? Wodurch definieren und identifizieren sich Kinder selbst zutiefst und wollen sich damit auch jede Minute ihres wachen Daseins verbunden fühlen? Mit anderen Worten: Was tun Kinder eigentlich immerzu? Das heißt, wenn man sie lässt….

Willkommen auf dem Planeten aller Kinder dieser Welt, oder besser gesagt im Universum aller Kinder und Jugendlichen:

Dem Spiel!

Das ist es, was Kinder zur Gänze ausmacht! Sie verstehen, begreifen, empfinden, erlernen, erfahren und entwickeln alles was sie tun dürfen oder sollen in der Hauptsache durch ihr spielerisches Tun.

Die Welt ist ein Spielplatz. Das weiß man wenn man Kind ist. Doch wir Erwachsene vergessen das zumeist.
Celestin Freinet

Für uns ganz besonders wichtig ist aber, dass diese Erkenntnis umso eindeutiger für Kinder gilt, die von ADHS betroffen sind. Es kann also fast als »Hattrick« angesehen werden, wenn man bei seinem liebenswerten kleinen Chaoten daheim wohl eher spielerische Effekte nutzt, als erklärende, mahnende, oder gar strafende.

Fiese Attacke?

Begeben wir uns nun noch einmal auf die Ebene der kindlichen Gedankenwelt, indem wir unser zuvor erzeugtes Bild mit der großen Blase erneut abrufen.

Mit dem nächsten Schritt stolpern wir schon ganz tief hinein in die »Stör-Falle«:

Irgendein Erwachsener tritt nun auf den Plan unseres Bildes, nimmt eine riesige Stricknadel und außerdem noch einen ordentlichen Anlauf und läuft los! Direkt auf die Wand der Blase zu – und sticht mit aller Kraft hinein! Das Spieluniversum um das Kind herum zerplatzt heftig und mit lautem Knall: Bumm! Schluss! Aus! Kein Spiel-Universum mehr da… Nur noch Fetzen!

Das kleine Wesen wird jetzt klarerweise nicht einfach nur erschrecken. Es wird von der rasch verlaufenden Flüssigkeit aus dem Inneren seiner kurz zuvor noch heilen Blase plötzlich herausgespült aus seinem Universum. Ebenso unbarmherzig wie irreversibel! Für den Moment wenigstens, denn Kinder können sich nämlich mit ihren wunderbaren Kräften immer wieder neue Spielblasen erschaffen. Wunderbare Kindheit…!

Aber noch ist unsere fiktive, bösartige Aktion nicht zu Ende: Soeben hat die große Nadel also das Universum des spielenden Kindes zerplatzen lassen. Das erschrockene kleine Wesen sieht jetzt gerade mit großen Augen hoch, und erwartet irgendetwas: Vielleicht irgendeine Anordnung, Ermahnung, irgendeinen neuen Tagesplan? Auch eine Strafpredigt könnte möglicherweise jetzt gleich kommen... Erwachsenenkram halt!

Auch wenn an dieser Stellen wahrscheinlich die allermeisten Mütter, Väter, Großeltern und noch mehr Bezugspersonen in- und außerhalb der Schulen lautstark protestieren. »So etwas tue ich nicht! Niemals!«

Und dennoch:.

Viele Bezugspersonen unternehmen meist völlig unbewusst gerade diese bestimmte »fiese Aktion« immer wieder: Sie zerstechen unerwartet und vor allem ungefragt die Blasen des Spieluniversums der Kinder. Manche tun dies sogar mehrmals täglich. Ungebremst purzeln die Kleinen da heraus und gemeinsam mit ihnen stolpern die Erwachsenen mitten hinein in die Falle, die eben genau das Zeug dazu hat, besonders die für ADHS so typische und wohl auch »gefürchtete« Aufmerksamkeitsschwäche und damit gleichzeitig die »Input-Sucht« massiv zu fördern: In die Stör-Falle!

Spielen ist eine Tätigkeit, die man gar nicht ernst genug nehmen kann.
Jaques Cousteau

Fallbeispiel: »Spielstopp«

Der fünfjährige Marco hat gerade auf dem Boden seines Zimmers seine geliebten Plastiktiere zu einem wunderschönen Zoo arrangiert, als seine Mutter auf den Plan tritt: »Marco, wir müssen gehen! Omi wartet auf uns!« Ganz überrascht schaut der Bub von seinen aufmarschierten Plastiktieren auf: »Jetzt? Wieso jetzt? Ich hab´ doch gerade….!«

Doch der Bub kommt gar nicht zu Wort. Mamas Stricknadel steckt schon viel zu tief in Marcos Universum drin. Gereizt fordert sie: »Du gehorchst mir gefälligst sofort, wenn ich dir etwas sage!«

Der kleine Mann unterbricht wortlos aber tief betrübt sein Spiel. Er ist gestört worden. Mittendrin. Er war nicht im Geringsten darauf vorbereitet. Und er liebt seine Tierchen im Plastikzoo doch so sehr. Besonders die beiden so lebensechten, weißen Elefanten, die er nun nicht mehr füttern darf! Das wäre ja noch nicht weiter erwähnenswert. Zumindest nicht aus der Erwachsenenperspektive.

Neuer Blickwinkel

Doch nun will KONZENTRUM versuchen, Ihnen jenen wichtigen, neuen Blickwinkel auf die Besonderheit dieser unschönen Angewohnheit zu vermitteln: Marco hat sein Spiel schon deshalb ohne viel Gegenwehr unterbrochen, weil das für ihn mittlerweile schon zur Routine geworden ist! Er ist es eben schon gewohnt, dass sowohl seine Mutter als auch der Vater Wert darauf legen, dass er jedes Mal sofort gehorcht, wenn man etwas von ihm möchte. Punktum!

Mit anderen Worten: Marcos Gehirn hat, wie wir ja schon längst wissen, seine »Gebrauchsspuren« in Richtung abrupt unterbrochene Tätigkeiten erarbeitet. Mehr und mehr wird es dem Jungen egal, ob er etwas fertig macht. Noch schlimmer kommt es aber jetzt: Sein Gehirn wird nun bald immer öfter nach solchen Unterbrechungen gieren! Es wird mit ziemlicher Sicherheit bald süchtig nach ihnen!

»Input-süchtig« wird man sein problematisches Verhalten später wohl nennen, oder mit dem modernen Fachbegriff »physiologischer Aktivierungsmangel«. Vielleicht in irgendeiner Fachpraxis, wo man den Fragebogen wegen ADHS mit ihm ausfüllen wird. In nicht allzu ferner Zukunft…

Immer öfter unterbricht Marco schon in den letzten Monaten aus eigenem Antrieb sein Spiel, lässt es achtlos liegen, sucht sich ein neues. Immer öfter verlässt er also sein Universum von selbst: Seine Eltern und seine Klassenlehrerin nehmen das in letzter Zeit als »verkürzte Aufmerksamkeitsspanne« wahr.

Auf der Suche nach Hilfe

Jahre sind vergangen: Marco ist heuer bereits 12 Jahre alt geworden und vor kurzem hat sein Vater sich Hilfe suchend an einen Verhaltenspädagogen gewandt, weil der Verdacht auf ADHS besteht: »Unser Bub kann sich kaum zwei Minuten lang einer gleich bleibenden Aufgabe widmen! Er hört immer öfters plötzlich mit einer Tätigkeit auf und sucht sich gleich wieder eine neue! Helfen Sie ihm bitte!«. So sind in seinem Zimmer andauernd mehrere Dinge »eröffnet«, aber keine abgeschlossen. Marco scheint eben ganz offensichtlich immer neue Inputs zu brauchen….

Doch nach eingehender Diagnostik durch eine erfahrene Psychologin und zwei verhaltenspädagogischen Beratungen kann in Marcos Fall Entwarnung gegeben werden: Kein signifikanter Verdacht auf ADHS!

Marcos Aufmerksamkeit wird, dem multimodalen Ansatz folgend, mittlerweile überaus erfolgreich mit zweierlei Ansätzen signifikant verbessert: mit tierbegleiteten Therapiestunden und mit Omega-3/6-Fettsäuren in ausgewogenem Verhältnis.

Ein konkreter Verdacht

Eine Schlussfolgerung liegt also klar auf der Hand: Erleben Kinder häufig oder sogar mehrmals täglich unerwartete, unvorbereitete und abrupte Störungen ihres Spieluniversums, so wird ihr lernendes Gehirn natürlich versuchen, dies als neue Norm hinzunehmen. Es wird sich also eine »Gebrauchsspur« bilden. Das so wunderbar flexible, kindliche Gehirn wird es dann schließlich vielleicht so formulieren: »Ach so ist das! Störungen sind also eine ganz normale Situation. Also muss ich die Reaktion auf diese Normalität besonders gut trainieren, denn diese werde ich nun immer häufiger benötigen. Das mir bisher so wichtige Spiel ist also gar nicht so sehr wichtig. Wie konnte ich mich nur so sehr irren? Das rasche Aussteigen ist es, worauf es anzukommen scheint. Na gut! Programmierung läuft….!«

Das Ergebnis dieser Programmierung könnte dann auf Dauer so aussehen: Immer bessere Fähigkeit zum raschen Ausstieg aus jedem Spielprozess. Entwicklung der Fähigkeit, nicht wieder einzusteigen, sondern hellhörig zu werden für das, was außerhalb des Spiels so wartet.

Verschieben der Wertigkeiten: Wichtig ist nun nicht mehr die eigentlich urtypische kindliche Angewohnheit, sich länger ein- und derselben Sache widmen zu können, sondern die ziemlich »verdächtig erwachsene« Fähigkeit, sich schnell aus einer solchen Tätigkeit befreien zu können.

Das Symptom der »Reizoffenheit« oder »Sinnesoffenheit« scheint damit zutiefst verknüpft.

Was also die Stör-Falle im Zusammenhang mit dem signifikant erhöhten Auftreten eines klassischen Aufmerksamkeitsdefizits betrifft, so lässt sich jedenfalls bei vielen beobachteten Eltern-Kind-Beziehungen schon eine verdächtig hohe Übereinstimmung erkennen. Aber beobachten Sie sich und Ihre diesbezüglichen Interaktionen doch einfach selbst….

Lösungsansatz

Die meisten Erziehungswissenschafter und namhaften Pädagogen empfehlen heutzutage unter ähnlichem Wortlaut, was auch unser Verhaltenspädagoge und KiddyCoach, Gerhard Spitzer, vorschlägt:

»Unterbrechen Sie, wenn möglich Ihr Kind nicht abrupt, wenn es gerade in ein Spiel versunken ist. Alles, was sich jetzt verschieben lässt, sollte nun vielleicht wenigstens für kurze Zeit warten. Selbst wenn eine Unterbrechung wirklich dringend erforderlich ist, wirkt eine Ankündigung einige Minuten vorher wahre Wunder: Ihr Kind hat nun die Möglichkeit, selbst aus seinem Spiel »auszutreten«, indem es den immer fantasiebehafteten Haupt-Spielstrang »zu Ende durchleben« kann. Kinder benötigen eben einige Zeit, sich von ihrem Spiel zu lösen und die sollte man ihnen - allerdings nicht zu großzügig - geben!«

Das geht übrigens leichter, als man glaubt: Oft genügt schon dem Kind das Gefühl zu geben, dass es überhaupt als »gerade spielend« wahrgenommen wird!

Zappelphilipps Top-Tipps

Anstatt einer knalligen Anordnung, »doch gefälligst jetzt augenblicklich folgsam« zu sein, kann man es so formulieren: »Wie rasch kannst du denn deinen Kaptain Kwirk mit seinem Raumschiff Entenschweiß landen lassen, damit wir selbst ganz rasch zu Oma fliegen können?« Noch schöner wäre natürlich ein kurzer gemeinsamer Ausstieg: »Fliegen wir doch kurz zusammen in deinem Raumschiff die letzte Runde?« Dieser gemeinsame Vorgang muss oft nur wenige Sekunden dauern. Schon ist Ihr Kind zufrieden und trainiert sein Gehirn damit, sich stets mit einer Sache zu Ende zu beschäftigen!